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DaMOst

Neuigkeiten - Archiv

20.06.2023

Unsere Anti-Rassismus-Beratung: Community-basiert

"Endlich mehr Perspektiven von Betroffenen in der Antirassismusberatung!"

Im Interview erläutert Projektleiter Abdou-Rahime Diallo die wesentlichen Aspekte und Besonderheiten unseres neuen Projekts "AntiRaktiv".


Lieber Abdou-Rahime, du hast schon im Osten wie im Westen Deutschlands gelebt, dich beruflich viel mit Migration und mit unterschiedlichen Diasporas beschäftigt, jetzt bist du Projektleiter des im Januar gestarteten Projekts AntiRaktiv. Was unterscheidet AntiRaktiv von anderen Beratungsangeboten zu Rassismus?

Das besondere an AntiRaktiv, ist, dass wir zum einen Perspektiven von Communities, also Betroffenen stärker einbringen, und zum anderen sie auch strukturell stärker in der Antirassismusberatung etablieren. Mit Beratungsstellen, wo Betroffene hinkommen, und dann auf  Fachleute treffen, die sie beraten und selbst von Rassismus betroffen sind. Dadurch wird Betroffenen eine hohe Identifikationsfläche geboten, so dass sie sich leichter auf die Beratung einlassen. Zum anderen erhält Antirassismusarbeit endlich die Expertise von Betroffenen.

Eine weitere Besonderheit ist, dass Organisationen von Migrant*innen im Fokus stehen. Die sollen befähigt werden, Beratungsstellen bei sich anzusiedeln und die Arbeit fortführen. AntiRaktiv wird als Teil eines bundesweiten Verbundprojekts durch die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, zugleich Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus, Staatsministerin Reem Alabali-Radovan, gefördert. In diesem Verbund setzen andere migrantisch-diasporische Netzwerke und Vereine ähnliche Community-basierte Projekte in anderen Bundesländern um.

Reem Alabali-Radovan und ihr Team begegnen uns mit viel Wertschätzung und wir arbeiten gut zusammen. Wir spüren, dass es ihnen genauso wie uns ein wichtiges Anliegen ist, dass dieses Projekt erfolgreich umgesetzt wird. Das motiviert uns alle zusätzlich. 

Wie habt ihr qualifizierte Mitarbeitende für das Projekt gefunden?

Hier muss ich besonders die ostdeutschen migrantischen Landesnetzwerke loben, die Mitglied bei DaMOst e.V. sind. Mit ihrer Vorarbeit, ihrer Vernetzung und ihren Mitgliederstrukturen sorgen sie für, mehr Zugänge zu Community-Fachleuten, so dass wir nun ca. 20 geeignete Antirassismusberater*innen aufbringen können.
Dennoch ist in Ostdeutschland die Zahl potenzieller Kandidat*innen eher überschaubar. Das muss langfristig aufgebaut werden! Und das ist auch eine der Aufgaben von AntiRaktiv: mehr qualifizierte Fachleute für Community-basierte Antirassismusarbeit!

Wo sitzen die AntiRaktiv-Beratungsstellen?

In  jedem der fünf ostdeutschen Bundesländer gibt es AntiRaktiv-Beratungsstellen. Mit AntiRaktiv wollen wir besonders ländliche Räume erreichen und bestehende Strukturen ergänzen.

In Mecklenburg-Vorpommern sind sie in Neubrandenburg, Rostock, Schwerin, Greifswald und Wismar. In Sachsen in Dresden/Bautzen und Chemnitz. In Thüringen ist die Beratungsstelle in Weimar und in Brandenburg in Fürstenwalde. In Sachsen-Anhalt knüpfen wir auch an das Projekt Endknoten von LAMSA e.V. an; dort sind es Halle, Dessau und Wernigerode im Harz.

Es ist eine große Herausforderung, die ländlichen Räume zu erreichen! Aber unsere Leute sitzen auch nicht einfach nur in ihren Büros und warten darauf, dass Betroffene anklopfen. Wir gehen auf Communities, auf Organisationen zu, dort, wo sie auf lokaler Ebene aktiv sind und wo es Vorfälle von Rassismus gibt.

Wie wird das aussehen, diese proaktive Seite des Projekts?

Da, wo Menschen mit Migrationserfahrung sich treffen, Meetings und Events veranstalten, wollen wir dabei sein, informieren, sensibilisieren und Akteur*innen gewinnen. Wenn sie in ihren Kreisen zusammen kommen, in ihren Zirkeln, Vereinen – dann wollen wir dabei sein.

Auch ihre virtuellen, sozialen Mediennetzwerke wollen wir erreichen. Wir, das sind unsere Berater*innen, unsere regionalen Projektleitenden unsere Fachleute für Öffentlichkeitsarbeit und die Zuständigen bei den Landesnetzwerken. Zum Beispiel treffen sich Frauen der afghanischen Community regelmäßig in großer Zahl im Raum Premnitz/ Rathenau, pflegen ihre Kultur und sprechen über ihre Erfahrungen, Herausforderungen und Bedarfe. Durch Vernetzung und freundschaftliche Kontakte wurden wir dazu eingeladen, AntiRaktiv vorzustellen und um über Rassismuserfahrungen und Empowerment zu sprechen. Bei unserem AntiRaktiv-Workshop machten ca. sechzig Personen mit und jetzt geht es darum sie darin zu unterstützen einen Verein zu gründen. Mit anderen Communities wird an anderen Orten ähnlich zusammengearbeitet.

Unsere Berater*innen werden auch zu Vorfällen hinzugerufen. Alle haben Mobiltelefone und können dann, je nach Verfügbarkeit, zu Vorfällen hinkommen – dahin, wo die betroffenen Menschen wohnen und wo sie strukturellem Rassismus begegnen können, Stichwort Gemeinschaftsunterkünfte, Schulen, Behörden, Ämter.

Können sich auch Leute, die noch nicht so gut deutsch sprechen, an die Beratungsstellen wenden?

Das ist ein wichtiger Aspekt der Community-basierten Beratung: Sie wird mehrsprachig angeboten. In unserem Berater*innen-Pool sprechen viele mehrere Sprachen wie z.B. Mina, Ewe, Farsi, Dari, Paschtu, Arabisch, Kurdisch, Russisch, Serbokroatisch, Ukrainisch, Armenisch, Chinesisch, Französisch, Englisch und Spanisch.

Für viele andere Sprachen bestehen Kontakte zu Sprachmittler*innen. Betroffene haben häufig mit Barrieren wie Tabus, Traumata und kulturell-bedingten Hürden zu kämpfen, so dass das Erzählen in der eigenen Sprache ein wichtiger Erfolgs- und Empowerment-Faktor sein kann.

Wie sieht es aus mit anderen Bildungsträger*innen, die gerne Antirassismus-Arbeit und –beratung machen möchten: Können die sich auch an AntiRaktiv wenden?

Auf jeden Fall! Das Projekt ist ja zum Teil dadurch begründet, dass es zum einen für Betroffene zu wenige Beratungsmöglichkeiten gibt, dass zum anderen die bestehende Beratungslandschaft überfordert ist und dass es den Bedarf gibt, Beratung stärker durch Community-basierte Beratung abzudecken.

Es gibt z.B. Fälle, wo Betroffene fehl- oder falsch beraten wurden, weil entweder die entsprechende Haltung, die Kapazitäten oder die interkulturellen Kompetenzen gefehlt haben. Und genau diese Lücken möchte AntiRaktiv füllen. Gern zusammen mit anderen Organisationen, die eine wichtige und gute Arbeit leisten. Und das  tun wir bereits auch schon, wie z.B. in Brandenburg mit der Opferperspektive und auch in Mecklenburg-Vorpommern, mit den dortigen Beratungsagenturen. AntiRaktiv versucht, das Feld der Antirassismusarbeit in Ostdeutschland engmaschiger zu machen.

Sind dafür auch die jährlichen Konferenzen gedacht, die AntiRaktiv plant?

Ja, es ist eine größere Konferenz pro Jahr geplant, gemeinsam mit den anderen Verbundpartnerorganisationen und dem Arbeitsstab der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration und der Beauftragten der Bundesregierung für Antirassismus. Die jährlichen AntiRaktiv-Konferenzen sollen Austausch für Community-basierte Antirassismusarbeit sein und die Sichtbarkeit der Projekte steigern. Am 5. Mai 2023 führten wir in Erfurt mit freundlicher Unterstützung der Landesregierung von Thüringen unseren AntiRaktiv-Fachtag durch.

Trotz aller Zuversicht machte uns Miriam Kruppa, Thüringer Beauftragte für Integration, Migration und Flüchtlinge, in ihrer Eröffnungsrede deutlich, dass es für uns angesichts sich ausbreitendem Rechtsextremismus und der Ablehnung von Migration und Geflüchteter in Politik und Gesellschaft für uns nicht einfacher wird und wir mit Gegenwind rechnen müssen.

Danach konnten unsere drei Expertinnen der Antirassismusarbeit mit starken Inputs zu Community-basierter Antirassismusberatung und guten Beispielen aus ihrer Praxis zu einem intensiven Austausch über neue Aspekte und Ansätze inspirieren. Muna AnNisa Aikins, die u.a. bei EOTO e.V. den Afrozensus mit umgesetzt hat, Renée Eloundou, die als Leiterin der Berliner Koordinierungsstelle zur Kolonialen Aufarbeitung viele Projekte entworfen und geleitet hat und Linh Tran, die in Sachsen als Schulsozialarbeiterin und Bildungsreferentin in Community-basierten Frauen- und Mädchenprojekten wie „SISTERS*-rassismuskritische Mäd¬chen*arbeit“ mitgearbeitet hat, führten uns in die spannende Welt ihrer Arbeit ein und steigerten unser Bewusstsein dafür, was in Bezug auf AntiRaktiv für eine erfolgreiche Umsetzung zu beachten und noch zu tun ist. Dadurch wurde auch klarer, dass Community-basierte Antirassismusarbeit in vielerlei Hinsicht ein noch recht unbeschriebenes Blatt ist, aber ein sehr hohes Potenzial für alle bietet, sowohl etablierten als auch zukünftigen Akteur*innen der Antirassismusarbeit.

Außerdem sind im Projekt noch Workshops geplant, oder?

Es wird mehrere Arten von Workshops geben: Einmal Empowerment-Workshops, wo betroffene Menschen zunächst ein Bewusstsein entwickeln, dass sie, ihre Kinder oder ihre Bezugspersonen Rassismus erleben. Viele verdrängen das oder wissen gar nicht, dass sie mit Rassismus  konfrontiert sind. Dann wollen wir Betroffene darin bestärken, Rassismusvorfälle zu adressieren und den Leuten zeigen, wie sie vorgehen können und wo sie weitere Unterstützung finden und auch, dass der Weg ein langer und schwieriger sein kann. Denn uns ist auch bewusst, dass es sehr schwierig ist, Recht zu bekommen. Wir wollen auf keinen Fall falsche Erwartung-en wecken, sondern mit offenen Karten spielen und den Leuten die Augen öffnen.

Dann organisieren wir Qualifizierungsworkshops für Migrant*innenorganisationen, damit sie AntiRaktiv langfristig weitertragen können. Dafür möchten wir deren Kompetenzen entsprechend ihrer Bedarfe stärken. Es geht auch um Professionalisierung: Vereine sollen in die Lage gebracht werden, Stellen für zukünftige Antirassismusarbeit bei sich anzugliedern und betreiben zu können. Das bietet Migrant*innenvereinen die Chance, sich besser aufzustellen und die Beratungs-landschaft mit ihren Angeboten engmaschiger und besser zu machen.

Darüber hinaus können wir Vereinen anbieten, strukturell besser aufgestellt zu sein. Wenn ein Verein z.B. Schwierigkeiten hat, sich zu organisieren, mit der Antragstellung, oder Mitgliederführung, dann wollen wir ihnen Unterstützung als eine Art Vorleistung anbieten.

Antragstellung, Organisationsentwicklung, Mitgliederführung: das sind alles Themen, die über Antidiskriminierungsberatung hinausgehen. Wird das nicht alles ganz schön viel für ein einziges Projekt?

Das ist ja genau der Punkt: Warum ist Antirassismusarbeit nach wie vor überwiegend „weiß“? Weil nichtmigrantische, etablierte Vereine Strukturen und Kompetenzen nutzen und Ressourcen dafür haben.

Vielen Migrantenorganisationen fehlt zum einen das Bewusstsein, dass dies Voraussetzungen sind, ohne die gute Vereinsarbeit nicht möglich ist. Zum anderen sind sie häufig nicht gut genug vernetzt und informiert. Dadurch entsteht eine Lücke, die auch dazu führen kann, dass viele Migrant*innenorganisationen auf der Stelle treten, ihre gute Arbeit nicht nutzbar und nicht sichtbar wird und nicht wachsen kann.

Diese Lücke wollen wir schließen! Deshalb ist AntiRaktiv ein so umfassendes und gleichzeitig spannendes Projekt.


Über den Projektleiter Abdou Rahime Diallo:
 
Abdou Rahime Diallo ist in Halle geboren und stammt aus Guinea.
2005 startete er als Fachkoordinator für Migration und Entwicklung für Nordrhein-Westfalen mit der Unterstützungs- und Vernetzungsarbeit für afrikanische Diaspora-Organisationen.
2011 leitete er das Projekt EADPD (Europe-wide African Diaspora Platform for Development) ein Netzwerkaufbau afrikanischer Diaspora-Organisationen in den 27-Eu-Staaten + Norwegen und Schweiz.
Im Zuge seiner Arbeit als Fachpromotor für Migration und Entwicklung für Brandenburg gründete er 2016 mit NeMiB e.V. das Netzwerk Migrantenorganisationen Brandenburg.
Mit Diaspora Policy Interaction bilden Antirassismus, Empowerment, Organisationsentwicklung und Prozessbegleitung von Institutionen und Organisationen wie u.a. Bundespolizei, Bundeskriminalamt, Amnesty International Robert Bosch Stiftung, Kirchlichen Hilfswerken, Schulen und Unis weitere Schwerpunkte.

Mehr Infos zum Projekt AntiRaktiv sowie Kontakt zu Ansprechpersonen in Ihrer Region finden Sie hier>>>

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