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DaMOst

René Oraha

Im Blick

Der Kulturmensch René Oraha wird Erfurt den Rücken kehren. Nicht, ohne viel für das Stadtklima getan zu haben. Er engagiert sich bei „Jugendliche ohne Grenzen“ und gibt als Teil eines Awareness-Teams Menschen eine gute Zeit. Ein Gespräch über Verantwortung und Abschied.

In Focus

René Oraha is turning his back on Erfurt. But not without having done a lot for the city's cultural and political climate. He is involved with "Jugendliche ohne Grenzen" and gives people a good time as part of an awareness team. A conversation about responsibility and saying goodbye.

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„Eine Sonnenbrille“, sinniert René Oraha „ist eigentlich schon ein Werkzeug. Es verbirgt deinen Blick und schenkt dir Anonymität.“ Andere im Auge behalten, sich selbst zurücknehmen – das sind Fähigkeiten, die René in einem Awareness-Team einbringt. An diesem Tag sitzt er in der prallen Mittagshitze vor dem Kurhaus Simone, einem Szene-Café in der Innenstadt unweit der Krämerbrücke. Während andere in den Schatten flüchten, lehnt er sich entspannt zurück. Bei seinen Verwandten im Irak können locker die doppelten Temperaturen herrschen. „Unter zwanzig Grad friere ich“, sagt er lächelnd und hebt die Hand, um einen Bekannten zu grüßen. Er nippt an seinem Kaffee, sucht mit spitzen Fingern eine Zigarette aus der Schachtel, nickt einer Freundin auf der anderen Straßenseite zu. René hat Zeit. Gerade hat er die Schule beendet und sieht seinem Umzug entgegen. Er verlässt die Stadt, in der er aufgewachsen ist und erkundet eine neue: eine Stimmung zwischen Aufbruch und Melancholie. „Ich bin sehr zwiegespalten. Einerseits ist es der Ort, der mich geprägt hat. Andererseits reden wir von Erfurt, dem Wohnzimmer der AfD in Thüringen. Ich war eigentlich immer in einer Verteidigungsposition – mit allem.“

"Sunglasses," muses René Oraha, "are actually a tool in themselves. They hide your gaze and give you anonymity." Observing others, taking a step back - these are skills that René brings to an awareness team. On this day, he is sitting in the blazing midday heat in front of Kurhaus Simone, a trendy café in the city center not far from the Krämerbrücke. While others flee into the shade, he leans back and relaxes. It can easily be twice the temperature at his relatives' home in Iraq. "I get cold below twenty degrees," he says with a smile and raises his hand to greet an acquaintance. He sips his coffee, picks a cigarette out of the packet with pointed fingers and nods to a friend on the other side of the street. René has time. He has just finished school and is looking forward to moving. He is leaving the city he grew up in and exploring a new one: a mood somewhere between new beginnings and melancholy. "I'm very conflicted. On the one hand, it's the place that shaped me. On the other hand, we're talking about Erfurt, the living room of the AfD in Thuringia. I was actually always in a defensive position - with everything."

Bis seine Ausbildung in Nürnberg beginnt, arbeitet René in einem Club und begleitet die Besucher*innen durch den Abend. Er betreut unter anderem den Einlass. „Ich war schon immer…“ – er überlegt – „selbstlos. Und habe auf andere aufgepasst.“ Bei den ersten Alkoholerfahrungen in der Clique sei er der nüchterne gewesen, der sich um die anderen gekümmert habe. Am Nachtleben nimmt er teil, indem er es aktiv gestaltet und auch Awareness-Arbeit leistet. Das Thema hat durch den Skandal um Rammstein-Sänger Till Lindemann neuen Auftrieb erhalten, praktiziert wird es in umsichtigen Clubs schon länger. So auch im Kalif Storch in Erfurt, wo René arbeitet. Awareness-Teams sind auf Partys unterwegs und jederzeit ansprechbar. Sie greifen ein, wenn es jemandem schlecht geht, hören zu, wenn Menschen Opfer von Übergriffen oder Anfeindungen werden und stellen sich an die Seite von Betroffenen. Sie erinnern an die Einhaltung der Hausregeln: Kein Sexismus, kein Rassismus, keine Gewalt. „Es geht darum, sofort da zu sein, wenn eine Person angegangen wird“, fasst René zusammen. Dazu gehört auch, einen abgeschirmten Raum zur Verfügung zu stellen, wo Menschen Schutz und Ruhe finden können, um sich vom Geschehen abzugrenzen, wenn es Not tut.

Until his apprenticeship in Nuremberg begins, René works in a club and guides visitors through the evening. Among other things, he manages admission. "I've always been..." - he reflects - "selfless. And I looked after others." During their first experience with alcohol in his circle of friends, he was the sober one who looked after the others. He takes part in the nightlife by actively shaping it and also doing awareness work. The scandal surrounding Rammstein singer Till Lindemann has given the issue new impetus, and it has been practiced in prudent clubs for some time. This is also the case at Kalif Storch in Erfurt, where René works. Awareness teams are out and about at parties and can be contacted at any time. They intervene when someone is feeling bad, listen when people become victims to assault or hostility and stand by those affected. They remind people to adhere to the house rules: No sexism, no racism, no violence. "It's about being there immediately if a person is attacked," René summarizes. This also includes providing a separate space where people can find protection, peace and quiet to isolate themselves from what is happening if they need to.

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Das Konzept macht nicht nur lange Nächte sicherer und genussvoller für alle, sondern auch große Zusammenkünfte wie Demonstrationen, wie sie auch die migrantische Vereinigung „Jugendliche ohne Grenzen“ (JoG) einberuft. Die ist mit ihrem Standort in Erfurt noch recht frisch, aber bereits gut vernetzt. René ist Teil des Verbunds. Auch bei Demos geht es darum, zu begleiten, Augen und Ohren offen zu halten, Wasser zu reichen, eine Verschnaufpause anzubieten. „Ich war selbst oft in Situationen, in denen ich sehr uncomfortable war“, sagt René. „Ich habe dann versucht, das nach außen nicht zu zeigen und mich innerlich zu beruhigen.“ Das bedeute aber Stress, den Menschen nicht durchleben müssen, ist er überzeugt. Insbesondere nicht, wenn sie entspannt feiern oder öffentlich ihre Meinung kundtun wollen. „Dass es das Angebot gibt – egal ob man es annimmt oder nicht – ist einfach superwichtig.“

The concept not only makes long nights safer and more enjoyable for everyone, but also large gatherings as demonstrations, such as those organized by the migrant association "Jugendliche ohne Grenzen" (JoG). It is still quite new with its base in Erfurt, but is already well connected. René is part of the association. At demonstrations, it's also about providing support, keeping eyes and ears open, offering water and a breather. "I've often been in situations myself where I was very uncomfortable," says René. "I then tried not to show it on the outside and to calm myself down on the inside." But he is convinced that this means stress, which people don't have to go through. Especially not if they want to celebrate in a relaxed manner or express their opinion in public. "The fact that the offer exists - regardless of whether you accept it or not - is simply super important."

René erinnert sich noch gut an seinen ersten Einsatz: eine große Demo am Internationalen Tag gegen Rassismus in Erfurt. Im Vorfeld gab es einen Workshop, der ihm bereits sehr zugesagt hatte. „Ich war von Anfang an von der Idee eines Awareness-Teams überzeugt“, sagt er. „Es gibt allen Anwesenden ein gutes Gefühl.“ Anfeindungen gebe es bei großen Menschenansammlungen zuhauf, gerade, wenn es um antirassistische Forderungen gehe. Klar habe auch er in seiner Kindheit und Jugend Rassismus erlebt. Vielleicht entspringt der Wunsch, anderen Verletzungen zu ersparen, auch diesen eigenen Erfahrungen. „Ich limitiere mich nicht auf die Awareness-Arbeit. Ich unterstütze auch bei der Orga von Demonstrationen oder halte Redebeiträge.“

René still remembers his first assignment well: a large demonstration on International Day against Racism in Erfurt. There was a workshop in the run-up to the event, which he had already really enjoyed. "I was convinced of the idea for an awareness team right from the start," he says. "It gives everyone present a good feeling." There is a lot of hostility at large gatherings of people, especially when it comes to anti-racist demands. Of course, he also experienced racism in his childhood and youth. Perhaps the desire to spare others injuries also stems from these experiences. "I don't limit myself to awareness work. I also help organize demonstrations or give speeches."

Mit seiner ehrenamtlichen Tätigkeit für JoG ist René Teil einer postmigrantischen jungen Bewegung, die ihre Stadt bewusst mitgestaltet und demokratischen Werten zu einer neuen Selbstverständlichkeit verhilft. „Aber wir sind kein Verein, der reine politische Arbeit betreibt.“ Es gehe auch um Treffen, Austausch, das gemeinsame Genießen von Zeit. „Es ist unglaublich wichtig, Orte zu haben, an denen man sich sicher fühlen kann. Wo es Leute gibt, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.“ Häufig reflektiere er erst im Nachhinein, was das bei ihm auslöse: ein wohliges Gefühl, das bestärkt. „Das ist fast eine Art Selbsttherapie – ohne das jetzt zu hoch anzubinden. Das Kollektiv hilft mir, in mich selbst reinzuschauen.“ Sich nicht mehr anzupassen, sondern sich zu entfalten – dabei habe JoG René ungemein weitergebracht. Aber als Kultur- und Kunstmensch urteilt er: „In Erfurt herrscht immer noch eine Alte-Leute-Politik. Vieles wird unterbunden, weil der Fokus eher auf Tourismus liegt und die großen Wähler*innengruppen entscheiden.“

With his voluntary work for JoG, René is part of a post-migrant youth movement that consciously shapes its city and helps establish democratic values as a new norm. "But we are not an association that only does political work." It's also about meetings, exchanging ideas and enjoying time together. "It's incredibly important to have places where you can feel safe. Where there are people who have had similar experiences." He often only reflects on what this makes him feel afterwards: a comforting feeling that encourages him. "It's almost a kind of self-therapy - without making too much of it. The collective helps me to look inside myself." No longer adapting, but rather developing - JoG has helped René tremendously with that. But as a man of culture and art, he says: "Politics in Erfurt is still oriented towards the needs of older people. A lot of things are curtailed because the focus is more on tourism and the big voter groups decide."

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Ein bisschen fühle es sich so an, als würde er seine Heimatstadt mit dem eigenen Weggang im Stich lassen, sagt René. Aber das entspringe vielleicht zu hohen Erwartungen an sich selbst, denkt er laut nach. „Es gibt so viel zu tun, aber wir können nicht alles leisten.“ Wir, das ist der Verein. Aber eben auch „die Jüngeren“, auf deren Schultern so viel Verantwortung liegt, an die so viel Erwartung angelegt wird – bei so viel Gegenwind. „Oftmals vergesse ich, einen Schritt zurück zu gehen und die Lage zu überblicken.“ In Nürnberg wird er sich zum Textil- und Modeschneider ausbilden lassen und folgt damit einer lang gehegten Passion. Langfristig sieht er sich als Modestylist und Kreativberater. „Mode ist eine nonverbale Sprache“, sagt er. „Die Art und Weise sich anzuziehen, sagt etwas aus. Ob du willst, oder nicht.“ Er lächelt und richtet die Sonnenbrille.

It feels a bit like he is letting his hometown down by leaving, says René. But perhaps that's because he expects too much of himself, he muses aloud. "There's so much to do, but we can't do it all." We, that's the association. But also "the younger people" on whose shoulders so much responsibility rests, on whom so many expectations are placed - in the face of so much resistance. "I often forget to take a step back and look at the whole situation." He will train as a textile and fashion tailor in Nuremberg, following a long-held passion. In the long term, he sees himself as a fashion stylist and creative consultant. "Fashion is a non-verbal language," he says. "The way you dress says something. Whether you want to or not." He smiles and adjusts his sunglasses.